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Valeria Luiselli: Archiv der verlorenen Kinder

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In ihrem neuen Roman Archiv der verlorenen Kinder verbindet Valeria Luiselli den Roadtrip einer US-amerikanischen Familie mit der Geschichte geflüchteter Kinder aus Mittelamerika. Und stellt dabei die Frage: Wie kann etwas dokumentiert werden, das längst verschwunden ist?

Weit nördlich der amerikanisch-mexikanischen Grenze, in New York, macht sich eine junge Patchwork-Familie auf den Weg in den Süden der USA. Die Eltern – eine Radiojournalistin und ein Soundscape-Künstler – nutzen diesen Roadtrip, um an unterschiedlichen Projekten zu arbeiten. Während er sich auf die Spuren der Apachen macht, recherchiert sie über unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Auf der Rückbank des Wagens sitzen ihre fünfjährige Tochter und sein zehnjähriger Sohn; im Kofferraum liegen große Plastikboxen mit Recherchematerial, Büchern und Tontechnik. Die Beziehung zwischen den Eltern ist schon seit einer Weile angespannt. Obwohl sich die Familie nie mit den Wörtern “Stiefvater” oder “Stieftochter” beschrieben hat, scheint sie nun auf dem engen Raum des Autos zunehmend an ihren Verwerfungslinien auseinander zu brechen. Dennoch fahren sie gemeinsam durch die endlosen Landschaften der südlichen USA, sie schlafen in heruntergekommenen Hostels, treffen Menschen mit komplett anderen Weltbildern, besuchen das Grab des Apachen Cochise und sehen ein Flugzeug starten, mit dem geflüchtete Kinder aus den USA ausgewiesen werden. Gleichzeitig machen sich auf der anderen Seite der Grenze unzählige Kinder auf den Weg in die USA. Archiv der verlorenen Kinder erzählt von diesen beiden gegensätzlichen Bewegungen.

Ein Archiv ist etwas ähnliches wie ein Tal, das die eigenen Gedanken in veränderter Form zurückwerfen kann. Man flüstert Ahnungen und Gedanken ins Leere und hofft, eine Antwort zu erhalten. Und wenn man schließlich den richtigen Ton getroffen hat und die richtigen Oberflächen gefunden hat, kommt manchmal, nur manchmal, tatsächlich ein Echo zurück, ein echter, klarer Nachhall. – S. 55

Die Grenze, die die USA und Mexiko voneinander trennt, ist 3144 Kilometer lang. Es brauchte nicht erst Donald Trump und seinen menschenfeindlichen Plan einer Mauer, die die Grenze vollkommen unüberwindbar machen soll, um die mexikanisch-amerikanische Grenze in das Zentrum der Immigrationsdebatte der USA zu rücken. Bereits seit den 1980er Jahren überqueren jährlich mehrere Hunderttausend Menschen aus Mittelamerika ohne Papiere diese Grenze in die USA. Sie fliehen vor Armut, Korruption und Gewalt. Doch 2014 hebt sich noch einmal von dieser Fluchtbewegung ab, denn es ist das Jahr der sogenannten “American Immigration Crisis”, in der ungewöhnlich viele unbegleitete Kinder und Jugendliche unter den Geflüchteten sind. Die Behörden sind überfordert, viele der Kinder werden “abgeschoben, zurückgeführt, ausgelöscht, weil in diesem gigantischen leeren Land kein Platz für sie ist”.

2014 ist auch das Jahr, in dem die mexikanische Schriftstellerin Valeria Luiselli beginnt, Archiv der verlorenen Kinder zu schreiben. Es ist nach Die Schwerelosen und Die Geschichte meiner Zähne ihr dritter Roman und der erste, den sie in englischer Sprache verfasst. Gemeinsam mit ihrer Familie reiste Valeria Luiselli in den Süden der USA, recherchierte und dokumentierte. Ihre Erfahrungen und Ergebnisse gehen in den Roman ein. Archiv der verlorenen Kinder ist deshalb auch ein autobiographischer Roman. Er ist darüber hinaus aber noch viel mehr: Er ist ein Familienroman, ein Road Novel, ein politischer Roman, der mit seiner traurig-melancholischen Grundstimmung eindrucksvoll die Immigrationspolitik der Vereinigten Staaten kritisiert und einfordert: “Wehre dich immer gegen diese leere, beschissene Welt”. Dabei drängen sich zentrale Fragen auf: Wie lässt sich eine Flucht dokumentieren? Wie lassen sich die Spuren verschwundener, verlorener Kinder festhalten? Inwieweit können die Erfahrungen und Gefühle anderer Menschen nachempfunden werden, wenn man diese selbst nicht erlebt, nicht gefühlt hat?

Wenn ich solche Artikel lese, amüsiert mich die entschlossene Sicherheit, mit der gesagt wird, was richtig und falsch, gut und böse ist. Auch wenn das alles nicht neu ist, bin ich wohl schlicht an abgeschwächte Varianten von Fremdenhass gewöhnt. Ich weiß nicht, was schlimmer ist. – S. 146

Valeria Luiselli nähert sich zunächst aus der Perspektive der Radiojournalistin und Mutter an diese Fragen an. Später wechselt die Perspektive, sodass die Reise noch einmal aus der Sicht des zehnjährigen Jungen erzählt wird. Die Themen Flucht, Migration, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit werden damit aus zwei unterschiedlichen Perspektiven behandelt. Die Autorin verbindet dabei die Dynamiken der Familie mit der Flucht zweier Mädchen in die USA. Denn: Der Reisebericht der Familie wird mehrmals unterbrochen – oder vielmehr: ergänzt – von Fragmenten des fiktiven Romans “Elegien für verlorene Kinder”, den die Protagonistin auf der Reise liest. Maßgebend ist das Motiv des Echos, das sich durch den Roman zieht – Szenen und Bilder, die sich wiederholen; Neugelerntes, das reflektiert wird; eine Fülle von literarischen und musikalischen Verweisen, deren Bedeutung erst im Nachhinein deutlich wird. Trotz dieser Vielschichtigkeit ist der Roman leicht zugänglich. Das mag zum einen daran liegen, dass Archiv der verlorenen Kinder ein langsam erzählter Roman ist, in dem Naturbeschreibungen, Gedanken und Gefühle auserzählt werden. Zum anderen daran, dass die Autorin in einer bekannten westlichen Perspektive auf die Themen Flucht und Migration verweilt. Mit einer außergewöhnlichen Verbindung von Text, Bild und Ton gelingt es Valeria Luiselli mit Archiv der verlorenen Kinder nicht nur formale, sondern auch inhaltliche Grenzen zu überschreiten. Und schließlich: Einen Roman zu erschaffen, der nachhallt.

 

Valeria Luiselli: Archiv der verlorenen Kinder. Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit. Antje Kunstmann Verlag 2019. 432 Seiten. 25 €.


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